
Die Kunst der Geschwistererziehung: Von Konkurrenz zu Kooperation
Es gibt einige Sätze, die dir wahrscheinlich bekannt vorkommen: „Hol mich zuerst aus dem Sitz“, „Nein, ich will neben Mama sitzen!“, „Lies erst MEIN Buch!“ Es erscheint auf den ersten Blick vielleicht trivial, wenn Kinder darüber streiten, wer zuerst aus dem Autositz darf oder wer welchen Platz auf der Couch bekommt. Solche Situationen können wirklich herausfordernd sein, besonders wenn man Geduld aufbringen muss. Aber wenn wir uns die Situation genauer anschauen, erkennen wir meistens, dass hinter diesen scheinbar unbedeutenden Konflikten tiefere Bedürfnisse stecken. Wenn wir diese verstehen, fällt es uns leichter, sowohl auf die Situation als auch auf unsere eigene Reaktion angemessen zu reagieren.
Die Geburt eines weiteren Kindes stellt einen entscheidenden Moment im Leben einer Familie dar. Eltern fühlen sich oft sicherer als beim ersten Mal, da sie bereits Erfahrung haben, aber gleichzeitig verändert sich die Dynamik, insbesondere in der Beziehung zwischen den Geschwistern. Werden sie gut miteinander auskommen? Werden sie sich gegenseitig lieben oder sich eher ständig streiten?
Das erste Kind ist meistens zwischen zwei und drei Jahren alt, wenn ein neues Geschwisterchen zur Welt kommt – genau in einer Entwicklungsphase, in der das Kind lernt, seine Emotionen und sein Verhalten zu regulieren und immer unabhängiger wird. Das bringt eine Vielzahl von Gefühlen hervor, die von Freude und Aufregung bis hin zu Frustration und Eifersucht reichen können – und all das kommt manchmal gleichzeitig. Wie ein Kind auf ein neues Geschwister reagiert, hängt von vielen Faktoren ab, darunter seine Reife, der Grad seiner Unabhängigkeit und die Umgebung. Besonders im Vorschulalter sind Kinder sehr sensibel für Veränderungen.
Dr. Montessori betont, dass jedes Kind ein einzigartiges Individuum ist, ein Universum für sich, das sowohl in der Geschwisterbeziehung als auch in der Familie das Potenzial für tiefe Liebe und gegenseitige Unterstützung hat – aber auch für Konflikte und Frustrationen. Sie ermutigt uns, die Familie nicht nur als soziale Einheit zu sehen, sondern als eine Gemeinschaft, die dafür sorgt, dass alle Mitglieder sich wohlfühlen und weiterentwickeln.
Wenn wir uns also die bekannten „Ich zuerst“-Aussagen ansehen, stellen wir fest, dass der gemeinsame Nenner das Bedürfnis nach Aufmerksamkeit ist. Kinder haben emotionale und psychologische Bedürfnisse, und die Aufmerksamkeit der Bezugsperson ist eine der wichtigsten Formen, diese zu stillen. Nur wenn diese Bedürfnisse erfüllt werden, fühlt sich ein Kind sicher und geliebt. Das gilt umso mehr, wenn mehrere Kinder im Haushalt leben. Natürlich ist es eine echte Herausforderung, diese Bedürfnisse gleichzeitig zu erfüllen, da es schwer ist, sich mehreren Kindern gleichzeitig gerecht zu werden.
Auf der anderen Seite ist es auch für ein Kind schwierig, eine Person zu teilen, die es über alles liebt. Es ist völlig nachvollziehbar, dass jedes Kind das Gefühl haben möchte, das Wichtigste zu sein und sicherzustellen, dass beide Eltern es gleichermaßen lieben. Für uns als Eltern mag es selbstverständlich sein, dass wir alle Kinder gleich lieben, aber für das Kind zählen nur das, was es sieht, fühlt und erlebt. In den Augen eines Kindes bedeutet Aufmerksamkeit Liebe, und sie sind sich der Balance oder Ungleichgewichts dieser Aufmerksamkeit in jedem Moment sehr bewusst.
Die vorbereitete Umgebung
Das Montessori-Prinzip der „vorbereiteten Umgebung“ kann uns helfen, den Haushalt für mehrere Kinder besser zu organisieren. Dies bedeutet, nicht nur das Zuhause, sondern auch uns selbst und die Beziehung zwischen den Geschwistern zu berücksichtigen. Gerade bei der Ankunft eines weiteren Kindes können gemischte Gefühle auftauchen – vielleicht aufgrund eigener Erfahrungen mit Geschwisterstreitigkeiten oder weil man befürchtet, das ältere Kind nicht gerecht behandeln zu können. Diese Gefühle sind ganz normal und sollten in einem sicheren und verständnisvollen Umfeld bearbeitet werden. Eltern sollten sich ebenso viel Fürsorge und Aufmerksamkeit schenken wie ihren Kindern.
Kinder können vor und nach der Ankunft eines neuen Geschwisterkindes sehr widersprüchliche Gefühle haben – Freude und Frustration, Angst und Aufregung, Liebe und Wut. Diese Gefühle sind oft viel komplexer, als Erwachsene sie wahrnehmen. Es ist wichtig, diese Gefühle anzuerkennen, sie zu benennen und sie in einem sicheren Rahmen zu besprechen.
Wenn es um die Gestaltung des Zuhauses geht, sollten wir die Entwicklung und Bedürfnisse jedes Kindes im Blick haben, was bei mehreren Kindern natürlich komplexer wird. Es ist jedoch keine unlösbare Aufgabe. Es ist wichtig, dass jedes Kind eigene Rückzugsräume hat – sei es ein eigenes Zimmer oder ein Bereich im Wohnzimmer, wo es in Ruhe spielen kann. Besonders wenn ein jüngeres Kind noch krabbelt und dabei alles zerstören kann, sollte das ältere Kind einen Ort haben, an dem es ungestört spielen oder seine Sachen außerhalb der Reichweite des Kleinen aufbewahren kann.
Die Übergangsphase
Diese Phase ist nur vorübergehend. Mit zunehmendem Alter und weniger ausgeprägten Entwicklungsunterschieden werden auch die Bedürfnisse nach privatem Raum weniger intensiv. Aber auch dann sollte es immer einen zentralen Treffpunkt geben, an dem die Kinder gemeinsam Zeit verbringen können.
Strategien zur Konfliktbewältigung
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1:1-Zeit: Ein persönliches Gespräch oder eine kleine Aktivität mit jedem Kind sorgt dafür, dass es sich besonders und geliebt fühlt. Das muss kein großer Ausflug sein – auch alltägliche Dinge wie zusammen Kochen oder ein gemeinsames Spiel stärken das Vertrauen und die Beziehung.
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Das Ziel ist nicht „Gleichheit“: Es ist wichtig, nicht zu versuchen, alles für alle Kinder gleich zu machen. Geschwister sind unterschiedlich, und jedes Kind hat andere Bedürfnisse. Anstatt alles „fair“ zu machen, sollte man sich darauf konzentrieren, jedes Kind individuell zu unterstützen.
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Vorhersehbare Routinen: Kinder gedeihen besonders gut, wenn sie eine klare, halb vorhersehbare Routine haben. Überraschungen, die zu Unsicherheit führen, können zu Streitigkeiten und Frustration führen.
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Lass die Kinder selbst Lösungen finden: Wenn sie streiten, zum Beispiel über eine Aufgabe, könntest du sie fragen, wie sie sich gemeinsam um das Problem kümmern können. Es ist ein wertvolles Lernen für sie, Lösungen zusammen zu erarbeiten.
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Gemeinsam im Team arbeiten: Anstatt die Kinder gegeneinander antreten zu lassen, könnte man sie bitten, zusammenzuarbeiten, um eine Aufgabe zu erledigen. So verstehen sie, dass Zusammenarbeit stärker macht als Konkurrenz.
Formulierungshilfen bei Konflikten:
Statt ein Kind zu beschuldigen, sollte man immer beide Kinder einbeziehen und die Situation nicht als „Schuldfrage“ darstellen. Konflikte sind oft ein Zeichen, dass die Bindung zu den Eltern gestört ist. Ein Moment der Zuneigung und der Erinnerung an die Liebe der Eltern kann Wunder wirken.
Vermeidung von Konflikten:
- „Max nutzt gerade die Farben. Möchtest du vielleicht Aufkleber verwenden?“
- „Julia, es sieht so aus, als ob Max gerade mit diesem Spielzeug spielt. Es wird bald wieder frei sein.“
Umgang mit Wutanfällen:
- Gib dem Kind Zeit, sich zu beruhigen, und validiere seine Gefühle.
- Wenn alle ruhig sind, hilf dem Kind, sich zu entschuldigen oder eine Lösung zu finden.
Reaktionen auf Konflikte:
- „Ich kann dir nicht erlauben, Max‘ Spielzeug zu nehmen, aber ich kann dir ein anderes zeigen.“
- „Ich verstehe, dass du frustriert bist, Julia. Du möchtest auch mit diesem Spielzeug spielen, aber es wird bald wieder verfügbar sein.“
Die Prinzipien von Dr. Montessori, wie „Lehre durch Vorleben, nicht durch Korrigieren“, sind auch hier von Bedeutung. Es geht darum, den Kindern zu zeigen, wie sie gut miteinander umgehen können, und sie durch unser eigenes Verhalten zum Teamgeist zu ermutigen.